Wahl 2015 in Hamburg: Farbenrausch

Die Nächte werden wieder kürzer, Hamburg wird langsam heller. Und man kann sogar die eine oder andere Farbe wieder erkennen.

Bzw. die eine und die andere und die andere und die dann auch und noch eine und einehamwernoch: Will sagen, die Bürgerschaftswahl wirft ihre knallbunten Schatten voraus. Und ich bin durcheinander. Einst lernte ich nämlich mal: SPD = Rot; CDU = Schwarz; FDP = blaugelb; Grüne = Grün; Sonstige = Sonstige. Und das gilt nicht mehr. Genausowenig wie die alte Behauptung, Parteien bräuchten Meinungen und Ziele, die über den Wahltag hinausreichten.

Aber ich will nicht meckern. Freuen will ich mich darüber, wie die Parteien unsere Stadt bunt machen. Und so rufe ich froh das Dichterwort:


So ruft es in Hamburg fast jede Partei:
Seid farbenfroh. Und meinungsfrei.

Vorweg ein bisschen Grünzeug
mit künstlichen Farbstoffen.
Gestalten für die SPD:
rot, Balken, weiter vorn.
SPD-Rezept: Lustiger Name, serviert
auf Cyan an gelbem Balken.
SPD auf dem Kiez: Papierpiercings,
Augenklappe und tiefmagenta
CDU: Nach dem OlevanBeust-Gelb
nun Tiefblauseriös: Kann mehr
CDU vollkommen blau:
Ein Mann mit fünf Stimmen.
Auch sehr blau. Aber Hamburg muss.
(Kann man nix machen)
Die Linke zuverlässig:
Schwarzweißmalerei mit viel Rot
Cosmopolitan und Regenbogen.
Ist aber FDP.
Neue Modeideen, Chic in Farbe
FDP gibt Meinung vor:
Wind von rechts weglächeln.
Da war doch noch was...






Prioritäten

Ein, zugegeben, blöder Titel für eine Geschichte.
(Ist aber auch schwierig, wenn die Geschichte da ist und man nie über einen Titel nachdenken wollte.)


Als Hans-Georg mich vor einigen Jahren an einem Abend im Juli anrief, waren gerade Schulferien.

(Wir kannten uns damals immerhin 25 Jahre. Ich hatte mit meinem Skizzenbuch am Rande eines Spielplatzes gesessen und Menschen gezeichnet, als er auf mich zukam und mir erzählte, er würde gerade ein Straßentheaterstück inszenieren und bräuchte noch wen, der das Plakat machen könnte und ob ich nicht Lust dazu hätte und auch dazu, abends zu ihm zum Essen zu kommen, da könnte man alles Nähere besprechen. Ein Österreicher, der mein Vater hätte sein können, der offen schwul war und angeblich Autor und Regisseur und auch sonst so was von interessant. Was für eine Nervensäge. Nur, ich habe nicht viele Freunde. Ich hatte auch damals nicht viele Freunde und deswegen hatte ich auch nichts Besseres vor, also sagte ich zu. So begann eine unglaublich anstrengende Freundschaft.)

Seine Stimme am Telefon war, wie üblich, fordernd: Ich müsse unbedingt zu ihm kommen, zum Abendessen. Ich wand mich.

(Noch am selben Abend erfuhr ich viel von ihm, wovon ich vieles abstrus fand. Dass er schwul war, beunruhigte mich nicht. Dass sein Freund mal gerade eben das Abitur hatte und bei der ersten Begegnung mit Hans-Georg in Ohnmacht gefallen sein sollte, schien mir übertrieben und ich fand auch, dass mich das nichts anging. Die Bücher, die er geschrieben haben wollte, glaubte ich erst, als sie später, beim Rauchen im Arbeitszimmer, im Regal standen. Während der nächste Joint gebaut wurde, forderte er mich auf, einen Text von ihm vorzulesen, den er, wie er sagte, gerade für den Enzensberger schrieb. Es war ein richtig guter Text. Ich schrieb damals noch nicht, aber lesen konnte ich. Und vorlesen auch. Und ich wurde neugierig auf ihn.)

Wie in letzter Zeit immer öfter, schaltete er nun auf Quängeln um. Er würde mich wirklich gern sehen. Ich hatte eigentlich keine Zeit.

(Ich machte das Plakat, und im Jahr darauf schaffte er es tatsächlich, mit zwanzig Amateuren jede Menge Szenen von Karl Valentin für die Straße zu inszenieren; ich spielte eine Hauptrolle beim Theaterbesuch, außerdem den Buchhändler Wanninger und einen Pressefotografen bei der Mondrakete. Auch ohne Aufträge war Hans-Georg ein vielbeschäftigter Mann. Er prozessierte erfolgreich gegen einen Zeitschriftenverlag, der seinen Text entstellt hatte und machte danach eine Party, die ihn gleich wieder in Schulden stürzte. Er setzte sich im RTL-Studio auf den „Heißen Stuhl“ und argumentierte dort listig für die Hanf-Freigabe. Er plante einen Hexenroman, den er nie schrieb. Er erwischte einen Fachbuchautor beim Abschreiben aus einem seiner älteren Bücher und kriegte so einen Vertrag für eine Neuauflage des eigenen Buches. Er wurde von dem jungen Freund verlassen und war bald darauf mit einem nicht weniger jungen Biologen aus der Schweiz zusammen, den er sehr liebte. Sehr öffentlich. So anmaßend, arrogant, charmant und rücksichtslos, wie Hans-Georg sich inszenierte, war er mir und anderen oft sehr, sehr peinlich. Er war immer laut. Fast immer.)

Ich legte die Hand auf den Hörer und sprach mit meiner Frau: Hans-Georg wäre dran, wolle mich unbedingt sehen. Jetzt mischte sich mein Sohn ein, der mit mir Lego spielen wollte, ich solle nicht wegfahren. Ich überlegte.

(Auch von dem Schweizer wurde Hans-Georg irgendwann verlassen. Danach verliebte er sich immer mal wieder und immer unsterblich. Manchmal blieben sie hinterher Freunde, manchmal wurde es ekelhaft, und sowieso wurde er älter. Es gab Abende, bei denen der Küchentisch nicht mehr vollbesetzt war. Abende, an denen ich einfach mal vorbeischaute, und wir saßen da, er legte sich eine Patience, ich zeichnete sein Küchenchaos, der CD-Player spielte seltene Jazzaufnahmen und keiner sagte was. Bei einer dieser stillen Gelegenheiten erzählte er mir, dass er eigentlich nichts wirklich gut könnte außer plaudern. Und ich sagte ihm nicht, dass es mir im Grunde ganz genauso ging, dass ich mich immer fühlte, als würden andere mich überschätzen. Er wusste das wohl auch so. Irgendwann, ein paar Jahre nach meiner Hochzeit, bei der er natürlich zu Gast war – Scheiß auf peinlich! – schrieb er seine Erinnerungen auf, die von der Kritik hochgelobt wurden. Als er sich an den zweiten Band machte, kam der Schlaganfall, und ich fragte mich, ob ich wohl noch drin vorkommen würde. Und ob ich das wollte.)


Hans-Georg, sagte ich. Ich glaube, ich kann heut wirklich nicht. Ich habe versprochen, dass ich heute Abend zu Hause bleibe, dass wir heute Lego spielen. Hans-Georg konnte so stur sein: Bitte. Komm.

(Nach dem Schlaganfall war er halbseitig gelähmt. Die Reha hatte er verweigert und darauf bestanden, so schnell wie möglich wieder in seine Wohnung zu kommen. Dort pflegte ihn Eckart, der schon seit Jahrzehnten die Wohnung mit ihm teilte. Hans-Georgs Witz war immer noch da, doch der war schärfer geworden, gnadenloser, ungeduldig. Auch, weil er nur noch denken und sprechen, aber nichts mehr schreiben konnte, die Hand steif, das Auge blind, es blieb nur Fernseher hören, rauchen, trinken, in die Plastikente pissen, ungeduldig sein. Und müde werden.)

Ich sagte ihm, ich hätte versprochen, heute in Familie zu machen. Morgen ja. Da könnte ich. Aber heute nein. Hans-Georg sagte mir, morgen, da wäre er tot.

(Er hätte keine Lust mehr, hatte er bei einem späteren Besuch gesagt. Und dann hatte er aufgehört zu essen, verweigerte, egal, wie lecker das auch sein mochte, was Eckart ihm kochte. Stattdessen trank er Prosecco, rauchte eine Pall Mall und viele Joints, gegen die Schmerzen, er wollte auch nicht mehr erklären. Weil ich ihn nur noch selten besuchte, sah ich die Veränderungen besonders deutlich und nahm sie doch umso weniger wahr. Meine Familie und ich lebten damals schon seit einigen Jahren am Stadtrand, Kinder brauchen Grün.)

Lass uns morgen telefonieren, sagte ich. Gut, sagte er. Und legte auf. Am nächsten Vormittag rief ich an und Eckart erzählte mir, dass Hans-Georg wohl irgendwann am frühen Morgen gestorben wäre. Er sähe so gelassen aus wie seit Jahren nicht.

(Ich vermisse ihn. Seit Jahren.)

Ich musste an den alten Witz denken, bei dem die Schwester zum Arzt sagt, der Hypochonder von Zimmer 14 wäre in der Nacht gestorben. Da sagt der Arzt: Jetzt übertreibt er aber. Ich meine mich sogar zu erinnern, dass Hans-Georg ihn mir irgendwann erzählt hat.


*Angeregt und eingeladen von Christine Frohmann, habe ich diese Geschichte für ihre eBook-Textversammlung "1000 Tode schreiben" verfasst, die im Übrigen hier näher beschrieben wird.
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